Die ersten der in diesem Buch Porträtierten zog es Anfang der 80er Jahre von Deutschland nach Neuseeland. In Europa herrschte Kalter Krieg, der Bau von Atomkraftwerken löste zusätzliche Ängste aus. „Dieses permanente Säbelrasseln war furchtbar“, erinnert sich Ruth Bastet (61), die den Schritt nach Down Under mit Mann und zwei Kindern wagte. Der Gedanke, in einem Land zu leben, das so weit weg von allem war, dass es kein attraktives Ziel für irgendwelche Mächte sein konnte, erschien ihr äußerst reizvoll. In der neuseeländischen Botschaft, damals noch in Bonn, zeigte man Ruth und ihrem Mann Filme über Neuseeland. „Wir wurden gefragt, ob es uns etwas ausmachen würde, wenn die Kinder barfuß herumlaufen. In Neuseeland würden sich Kinder, wenn sie rausgehen, nämlich die Schuhe ausziehen. Was ich geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Aber diese Natürlichkeit hat mir gefallen. So wie mich auch die offenen Gesichter anzogen, die wir in den Videos sahen. Dieses Lachen hatte eine starke Wirkung auf mich.“
Neuseeland gehört seit langem zu den Traumzielen deutscher Auswanderer. Kein Wunder, verspricht das Land doch, was mancher zu Hause schmerzlich vermisst: einen gelasseneren Lebensstil vor allem, viel grüne Natur und ausreichend Platz für alle. Nicht wenige Neu-Neuseeländer kehrten Deutschland den Rücken, weil sie es leid waren, bis an den Rand der Erschöpfung und manchmal noch darüber hinaus zu arbeiten. Was nicht heißt, dass sie in ihrer neuen Heimat auf der faulen Haut liegen würden. Die Gynäkologin Simone Petrich (42) und der Anästhesist und Intensivmediziner Hansjörg Waibel (46) zum Beispiel arbeiten in der staatlichen Klinik von Dunedin immer noch gern und viel, aber wesentlich entspannter als in Deutschland. „Hier herrscht die Einstellung: Schau nach dir, geh ordentlich mit dir um, niemand hat etwas davon, wenn du Raubbau an deinen Kräften betreibst und in ein paar Jahren kaputt bist“, sagt Hansjörg.
Christian Ecker (36), der seit 2009 mit seinem Partner in Christchurch lebt, liebt es, mit den Hunden am Strand spazieren zu gehen. „Das ist jedes Mal wie Urlaub. Ich kann mittags entscheiden, dass ich nach der Arbeit noch ans Meer will. Man denkt bei Kiwi-Lifestyle vielleicht eher an jemanden, der abends noch mal schnell eine Runde windsurfen geht, aber Lifestyle ist ja auch, was die Augen und der Geist wahrnehmen. Es ist irre: Du fährst ein paar Kilometer und bist auf dem Land und schaust auf die schneebedeckten Alpen, während du am Strand herumläufst.“
Auch Maggie (52) und Josef Kieninger (58) haben Deutschland verlassen, weil vor allem Josef total überarbeitet war. Dass sie auf ihrer alten Blaubeer-Farm nördlich von Levin, auf der sie „nebenbei“ Alpakas und Shropshire-Schafe züchten, Gäste bewirten und ganz viel Kunst machen, ebenfalls von morgens bis abends zupacken, empfinden die beiden nicht als Widerspruch. „Auswandern hat ja nichts mit Arbeitsscheu oder Aussteigen zu tun“, erläutert Maggie. „Interessant ist doch: Kriege ich es hin oder kriege ich es nicht hin? Zu was bin ich fähig?“
Wer schon immer mal etwas ganz anderes ausprobieren wollte, findet dafür in Neuseeland gute Voraussetzungen: Veränderungen sind an der Tagesordnung und geradlinige Biografien so viel weniger wichtig als in Europa. „Es gibt hier diese Mentalität: Wenn du denkst, du kannst das machen, dann mach es doch“, hat Kirsten Reeck (53) festgestellt, die Ende der 90er Jahre nach Neuseeland kam. „Keiner fragt dich: Hast du dafür auch die passende Ausbildung? Einer kann vielleicht gut schnitzen, und ein anderer sagt: Verkauf doch die Sachen! Oder: Du denkst, du kannst gut malen? Stell doch mal aus! Zeig, was du kannst! Das Tolle ist: Das geht in jedem Alter. Wenn man mit 50 noch mal Kindergärtnerin werden will - warum denn nicht?“ Diese Einstellung wird Kirsten selbst womöglich bald vermissen. Denn sie hat sich nach zwölf Jahren am anderen Ende der Welt entschieden, nach Deutschland zurückzukehren - weil das Heimweh nie ganz aufgehört hat, aber auch, um sich um Mutter und Großmutter zu kümmern, die immer älter werden.
Das Leben als etwas zu begreifen, das sich in Phasen vollzieht, und die Entscheidung auszuwandern als umkehrbar, sollten die eigenen Lebensumstände nicht mehr zu der einmal getroffenen Entscheidung passen oder man selbst oder der Partner in der Ferne doch nicht so glücklich werden wie erhofft, scheint den Erfolgsdruck für viele Auswanderer zu mindern. „Ich hätte keine Probleme zu sagen, das war nichts für mich, wenn es so wäre“: Eine Einstellung, die so oder so ähnlich etliche der Porträtierten äußerten. Ingo (43) und Grit Schleuß (41) zum Beispiel, deren deutsche Drogistenausbildung in Neuseeland nicht anerkannt wurde. „Als wir hier ankamen und es mit der Einwanderung nicht so glatt lief, sagten wir uns: Wenn sie uns hier nicht haben wollen, packen wir eben unsere Sachen wieder ein und gehen zurück nach Deutschland oder versuchen es woanders. Immerhin hätten wir dann ein paar schöne Jahre in Neuseeland verbracht.“ Heute haben die beiden drei Kinder, was sie sich in Deutschland nie hätten vorstellen können, und führen ein Unternehmen, das sogar schon für die neuseeländische Olympia-Nationalmannschaft produziert hat.